Die Wahl der Qual


Eine Warnung vorweg: Dieser Blogbeitrag ist etwas länger geworden, weshalb ich ihn gleich hier auch als PDF zum Download bereitstelle. So ist er vielleicht besser zu lesen. Und falls das Ding hier den Charakter eines offenen Briefes hat … nun, vielleicht ist das nicht ganz zufällig!

 

Ein offener Brief?

 

Es gibt Situationen, in die schlittert man irgendwie rein. Seltsame, irritierende Situationen und von jetzt auf gleich ist man mittendrin. Noch irritierender wird es, wenn man genau weiß, dass man keine Chance einer richtigen Entscheidung hat. Was heißt am Ende schon „richtig“? Richtig im Sinne von: Ich tue niemandem weh? Ich werde allen gerecht? Ich kann mir im Spiegel in die Augen sehen? Ich tue, was getan werden muss?

 

Regelmäßig sind in solchen Lagen dann auch noch mehr Menschen betroffen, nicht nur man selbst. Da wird es dann schon ethisch. Ist es „richtig“ einem einzelnen Menschen Unrecht zuzufügen, damit dann am Ende viel mehr Menschen zufriedener werden? Oder mit Mr. Spock zu fragen: Wiegt das Wohl eines Einzelnen tatsächlich weniger als das Wohl vieler? Was heißt aber „Unrecht“ und kann eine (demokratische) Wahl überhaupt ein Unrecht darstellen? Fragen über Fragen.

 

In unserem Leben, so hat es George Steiner einmal zu Papier gebracht, können wir zwei Dinge nicht stoppen: Denken und Atmen. Wobei wir länger nicht atmen als nicht denken können. Steiner nennt das einen erschreckenden Zwang und ich denke(!), dass er damit absolut Recht hat. Manchmal täte es gut, nicht so viel denken zu müssen. Besonders dann, wenn man sich gerade als Verlierer fühlt – obwohl man auf dem Papier auf der Siegerseite steht und es vielen anderen mit dem Ergebnis viel, viel besser geht. Da ich aber nun nicht aufhören kann zu denken, schreibe ich meine Gedanken einfach einmal auf. Vielleicht hilft es ja.

 

 

Aber alles auf Anfang. Kürzlich bin ich genau in einer solche seltsame und irritierende Situation geschliddert. Mit allem Drum und Dran! Taktische Manöver, Verstellung, Tarnung und Täuschung, alles war dabei. Das alles in einer demokratischen Wahl, die durchaus mit harten Bandagen ausgefochten wurde. Alles für eine gute Sache – davon bin ich überzeugt, was mich aber dennoch kaum tröstet. Am Ende stehen nämlich zwei tragische Figuren: Spock bzw. der von ihm beschriebene Einzelne - und ich.

Besser heißes Herz als Hose voll!

 

Richtig scheint mir allerdings zu sein, dass es Entscheidungen gibt, die einem niemand abnehmen kann und die vom Grunde her gar nicht „richtig“ ausfallen können. Das muss nicht unbedingt Pest oder Cholera bedeuten. Trotzdem bleibt irgendwer dabei beschädigt zurück, ob man es nun will oder nicht. Aber wie könnte eine Alternative aussehen? Sich wegducken und warten bis es vorbei ist? Oder anpacken und sehen was passieren wird? Franz Müntefering hat einmal seine Sichtweise der Dinge auf den Punkt gebracht, als er in einer seiner vielen Reden sinngemäß den Geruch von Schweiß und Anstrengung dem einer vollen Hose vorzog: „Das ist besser, heißes Herz und klare Kante, als Hose voll. Das riecht auch nicht gut“.

 

 

Aber ohnmächtig habe ich mich schon ein bisschen gefühlt. Immerhin habe ich aber eine Entscheidung getroffen, die ich noch dazu auch vor mir selbst verantworten kann.

Machtlosigkeit versus Ohnmacht

 

Machtlosigkeit und Ohnmacht sind ungleiche Begriffe. Ohnmacht beschreibt den Gegenpol von Macht, während Machtlosigkeit den Ursprungszustand bzw. den paradiesischen Zustand der Menschheit beschreibt. Einen egalitären Zustand. Ohne oben und unten – alle sind gleich. „Es ist der Urmenschheitstraum, dass wir dann am glücklichsten wären, wenn Macht keine Rolle mehr spielen würde.“ – das schreibt jedenfalls Rainer Hank in seinem Buch „Lob der Macht“. Im Fußball gibt es da eine ähnliche Weisheit, ein ähnliches Bild, nämlich das von den elf Freunden („Elf Freunde müsst ihr sein“).

 

So funktioniert unser Leben aber augenscheinlich nicht, auch nicht in einer Demokratie. Elf Freunde sind wir schlicht nicht. Es gibt die, die an der Macht sind, am Drücker sitzen. Und es gibt diejenigen, die dorthin oder aber zumindest einige grundlegende Dinge ändern und anpacken wollen. Was nicht heißen soll, dass auf dem Weg nach oben alles erlaubt ist. Genauso wenig muss man aber auch alles hinnehmen, was die vermeintlich Mächtigen sich so vorstellen und unter sich ausmachen.

 

 

Thomas Morus lebte vor einigen Jahrhunderten in England. Von Papst Johannes Paul II. wurde er zum „Patron der Politiker“ (sowas gibt es wirklich!) gemacht bzw. ernannt. Was er dafür getan hat? Er leistete Widerstand und sprach ausdrücklich keinen Eid auf seinen Souverän, was er im Anschluss allerdings mit dem eigenen Leben bezahlen musste. Okay, das ist schon einige Zeit her und spielte noch dazu auf einer für die teils seltsam anmutenden Eigenheiten seiner Einwohner bekannten Insel. Trotzdem hat sich augenscheinlich nichts daran geändert, dass man gelegentlich den Preis für seinen Widerstand zahlen muss. Und sei es nur, dass dieser aus Verachtung und Anfeindungen durch die Gegenseite besteht. 

Hottentottenwahlen 2.0

 

Ohnmacht in Macht zu verwandeln, das fühlt sich auch in einer demokratischen Wahl zunächst einmal seltsam an, gilt es doch vermeintlich verdiente Amtsträger zu ersetzen. Demokratie ist gut. Aber „Opposition ist Mist“ – wieder so ein Zitat von Müntefering. Opposition gehört dennoch dazu, und zwar auch die Opposition in den eigenen Reihen. Nur bedeutet dies eben auch, dass diese Opposition Möglichkeiten an die Hand bekommen muss, die eigenen Interessen zu vertreten und sich Gehör zu verschaffen.

 

Hinterzimmerdiplomatie ist das krasse Gegenteil von Demokratie. Statt Meinungsvielfalt und Transparenz herrschen in einem solchen Umfeld nämlich Absprachen, Filz und Vetternwirtschaft. Einigkeit macht stark. Ja! Aber Einigkeit darf eben nicht mit jener Hinterzimmerdiplomatie verwechselt werden, sonst sind auch Ideale wie Freiheit und Brüderlichkeit am Ende nur leere Worthülsen.

 

Aber alles noch einmal zurück auf Anfang und nicht so hoch gehängt. Zunächst einmal muss man anerkennen, dass auch in Vereinen, Parteien und sonstigen Organisationen nicht elf Freunde am Werk sind. Die Frage ist nur mehr, ob trotz aller Meinungsverschiedenheiten und inhaltlicher Debatten am Ende zumindest ein gemeinsames Ziel steht. Wenn dieses Ziel nur im persönlichen Machterhalt oder in der Sicherung von Ansehen und Image der aktuellen Machtelite zu sehen bzw. suchen ist, dann wird es in der Tat schwierig, hier auf einen grünen Zweig (Konsens) zu kommen.

 

Besonders schwierig wird die Situation nach meiner Beobachtung allerdings dann, wenn die vermeintlich Mächtigen sich einen Stellvertreter suchen, den sie in die erste Reihe schicken. Einen Strohmann bzw. eine Strohfrau, die nur nach außen hin die Fäden in der Hand hält. Wenn das der Fall ist und die alteingesessene Machtelite eben diese Macht einfach nicht loslassen will, dann bleibt unter Umständen nur der Weg in den Untergrund. Dann ist Guerilla-Taktik angesagt. Und genau da, in dieser Guerilla-Taktik, liegt mein Problem.

 

 

In einer solchen Situation werden nämlich auch „Unschuldige“ getroffen und verletzt. Zumindest dann, wenn diese Guerilla-Taktik erfolgreich ist und aufgeht. Dann bleibt eben diese Strohfrau oder dieser Strohmann auf der Strecke und geht einigermaßen ramponiert vom Feld. Genau das ist auch im beschriebenen Fall passiert. Der Plan bzw. „unsere“ Guerilla-Taktik gingen auf, es kam zu Tumulten und am Ende blieb der Strohmann der Mächtigen einigermaßen lädiert auf dem Spielfeld zurück. Allein! Die anderen waren schon zornig nach Hause gegangen. Sie wussten: Ihre Zeit war abgelaufen. 

Die normative Kraft des Faktischen versus Gutmenschen

 

Und jetzt so? Klingt ja einigermaßen martialisch. Muss ich als Mediator und Moderator nicht eigentlich auf Konsens und Miteinander gepolt sein? Gute Frage! Allerdings habe ich da zumindest einen Einwand vorzubringen. Eine Mediation macht nämlich immer nur dann Sinn, wenn es tatsächlich um eine weitere Zusammenarbeit, ein längerfristiges Miteinander geht. Was aber in diesem konkreten Fall (zumindest jetzt) ausdrücklich nicht Zielsetzung war. Es ging, aus guten Gründen, schlicht um Ablösung der alten Elite.

 

Das Dumme für mich war nur, dass ich mich nicht als Teil der Siegermannschaft oder gar selbst als Sieger fühlte. Vielmehr hätte ich mich gerne mit „Spock“ in eine Ecke gestellt und … geheult? Keine Ahnung. Schön ist bzw. war jedenfalls anders.

 

Das Wort „Gutmensch“ war das Unwort des Jahres 2015. Mit diesem Begriff „… werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert“ – so die damalige Jury-Sprecherin von der TU Darmstadt. Etwas Naivität und auch Dummheit würde ich mir sicher auch attestieren wollen. Immerhin fehlt aber der dritte Aspekt, die Weltfremdheit. Mir war nämlich von Anfang an klar, dass hier mit harten Bandagen gekämpft und gestritten würde. Weltfremd war ich in meiner Entscheidung auch nicht im Hinblick auf die klaren Optionen von „die oder wir“ oder was das für mich bedeuten würde.

 

Nein, ein Gutmensch bin ich sicher nicht. Dennoch hoffe ich, dass ich nicht zu naiv, nicht zu dumm und vor allen Dingen nicht zu weltfremd bin, wenn ich mir wünsche, dass „mein Spock“ wieder aufstehen, sich schütteln, den Staub aus seinen Klamotten klopfen und auf uns (die Neuen) zugehen wird. Es ist schlicht so, dass er gebraucht wird. Vom ganzen Team und damit auch von mir. Ich hätte ihn gerne wieder dabei!

 

Ingo Recker

 

 

 

Schlussbemerkung:

 

Fragen und Anmerkungen sehr gerne per E-Mail an frage@ingorecker.de

 

Oder einfach anrufen!