Algorithmische Bewegung des materiellen Rechts?

 

In ihrem jüngsten Aufsatz befassen sich Stephan Wernicke und F.-J. Mehmel [1] mit dem Phänomen einer offensichtlich zunehmenden partiellen Privatisierung unseres Rechtssystems. Ein Phänomen, das insbesondere mit der stetig steigenden Bedeutung von Digitalisierung und e-commerce daherkommt. Privatisierung meint in diesem Zusammenhang, dass Streitigkeiten in diesem Umfeld regelmäßig ohne Anwälte und Gerichte gelöst bzw. bestenfalls sogar vermieden werden. Die Autoren machen dieses Phänomen unter anderem daran fest, dass die Zahl zivilgerichtlicher Auseinandersetzungen in der vergangenen Dekade um rund ein Fünftel zurückgegangen sei. Während die Zahl deliktsrechtliche Verfahren auf stabilem Niveau verblieb, sind insbesondere die Fallzahlen für kauf- und gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungen um ein Viertel bzw. rund die Hälfte zurückgegangen. Ein Zufall kann das nicht sein, da sind sich die Autoren sicher.

 

Was sich bisher etwas kryptisch ausnimmt, wird meines Erachtens durch eine Äußerung des Datenschutzbeauftragten des Bundes, Ulrich Kelber, etwas plastischer bzw. plausibler. Denn „Vertrauen“, so betont Kelber, sei als Rohstoff der Zukunft anzusehen (und nicht primär nur nackte Daten). Vertrauen basiert wiederum auf persönlicher Anschauung und individueller Einschätzung. Regelmäßig geht e-commerce – egal ob „b2b“ oder „b2c“ - dagegen mit einem gewissen Massengeschäft und räumlichen Distanz einher, was eben jene persönliche Einschätzung mehr oder weniger unmöglich macht.

 

Kleidung, Pauschalreisen, Lebensmittel, Elektronikartikel, Bücher ebenso wie Maschinen, Werkzeuge und Dienstleistungen: so ziemlich alles kann heute einfach und unkompliziert online bezogen werden. Während der Verbraucher bzw. Nutzer beim stationären Handel die Ware noch selber anfassen oder zumindest ansehen oder sich selbst ein Urteil über Kompetenz oder Vertrauenswürdigkeit des Verkäufers oder Geschäftspartners verschaffen kann (Stichwort: Nasenfaktor!), geht das online so nicht. Verbraucher und Einkäufer sind also gezwungenermaßen gehalten, sich an anderen Maßstäben zu orientieren.

 

Insbesondere Bewertungsportale springen in diese Bresche und versprechen Unterstützung bei der Kaufentscheidung. Neutral sollen sie sein und eine möglichst große Zahl an Bewertungen enthalten, um so ein wiederum möglichst objektives Bild und verlässliche Informationen bieten zu können. Jeder Onlinehändler wird dabei selbstredend an einer möglichst positiven Bewertung interessiert sein. Grundsätzlich fließen - über eine reine Produkt- bzw. Dienstleistungsbewertung hinaus - beispielsweise auch weichere Punkte, wie die Bearbeitung von Reklamationen oder das allgemeine Kulanzverhalten sowie der Umgang mit Kundendaten, in eine Bewertung ein.

 

„Plattformbetreiber sind am Kundenvertrauen orientiert“ konstatieren Wernicke und Mehmel. Mithin erfolgt, und dies regelmäßig auf der Basis von Algorithmen bzw. eines individuellen Kundenprofils, eine Bewertung der zu erwartenden zukünftigen Geschäftsbeziehung.  Auf dieser Grundlage gilt es dann abzuwägen, wann bzw. ob sich eine ggf. gerichtliche Auseinandersetzung im Einzelfall lohnt.

 

Kommt es tatsächlich zu einer Auseinandersetzung, spiegeln sich die aufgezeigten Tendenzen dieser „Privatisierung des materiellen Rechts“ in der Art und Weise der Beilegung eines Streits. So arbeiten einige Industrie- und Handelskammern an einem digitalen System, das insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) bei der Lösung eines Streits helfen soll. Neben Hinweisen zu möglichen Lösungswegen eines Konflikts soll dieses System, basierend auf einem spezifischen Fragenkatalog, vorformulierte Schiedssprüche enthalten und entsprechende Schiedseinrichtungen vorschlagen.

 

Festzuhalten bleibt für mich schließlich, dass weder das Recht allgemein, noch die Mediation oder andere Formen der Konfliktbeilegung in Stein gemeißelt sind. Vielmehr ist allerorten algorithmische Bewegung zu verzeichnen. Dennoch, und darauf weisen die Autoren abschließend hin, darf nicht vergessen werden, dass „die ethischen Fundierungen jahrhundertelanger Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, geschweige denn die Menschwürde, nicht von einem Algorithmus abbildbar ist.“

 

 

 

[1] Wernicke / Mehmel: „Privatisierung des Rechts als Folge der Digitalisierung der Wirtschaft“, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZeuP 2020, 1)