Deutungsdemut


Auf dem Weg ins Büro höre ich regelmäßig Radio. Kürzlich habe ich so ein interessantes, für mich neues Wort gelernt: Deutungsdemut! Ein Begriff, der offensichtlich durch den Chefredakteur der Wochenzeitung ZEIT, Giovanni di Lorenzo, geprägt wurde.

 

Was genau mit dem Begriff gemeint ist? Pfarrerin Annette Bassler von der evangelischen Kirche nimmt sich der Deutungsdemut im Deutschlandfunk an. Sie stellt ihrer Beschreibung des Begriffs ein Zitat des Kabarettisten Dieter Nuhr voran:

 

„Wenn man von was keine Ahnung hat – erstmal die Schnauze halten!“

 

Das ist also, aufs Wesentliche reduziert, mit Deutungsdemut gemeint! Als Pfarrerin wird Annette Bassler natürlich dafür bezahlt, im Folgenden irgendwie einen kirchlichen oder biblischen Zusammenhang zum Gesagten herzustellen. Ich, als lediglich zahlendes Mitglied der größten Konkurrenzorganisation ihres Arbeitgebers, habe offen gestanden keine besondere Nähe zu biblischen Texten. Zu viel „Jesus“ verschreckt mich. Punkt!

 

Ich höre trotzdem weiter zu. Denn was jetzt kommt, dass interessiert mich als Mediator. Die Hauptperson ihrer Geschichte, nennen wir sie … okay … Jesus, wird lauthals von einem Blinden um Hilfe gebeten. Die bisherige Information (Blinder bittet um Hilfe!) scheint auf den ersten Blick mehr als ausreichend für die Klärung der Situation zu sein. Was will der Mann von unserer Hauptperson? Klar: Sehen. Geheilt werden! Was sonst?

 

Nun aber das eigentliche Wunder. Denn statt gleich ans Werk zu gehen, stellt unsere Hauptperson lieber eine Frage:

 

„Was willst du, dass ich dir tue?“

 

Etwas moderner ausgedrückt: Was liegt an? Unser Hauptdarsteller fragt also, obschon es doch eigentlich gar keinen Zweifel am Inhalt der noch auszuformulierenden Bitte des Blinden geben kann, tatsächlich nach dessen Anliegen! Genau das ist, so Bassler, Deutungsdemut. Den Plan im eigenen Kopf einmal vergessen. Stattdessen lieber die Betroffenen fragen, was das Problem oder sein Interesse ist.

 

 

Fazit: Fragen, nicht vermuten. Ausreden lassen! Zuhören!

 

Denn allzu oft scheint nach einem ersten flüchtigen Blick völlig klar zu sein, worum es hier geht. Was aber, wenn dem gar nicht so ist? Wenn, um im Bild zu bleiben, das größte Problem des Blinden vielleicht gar nicht seine Augen sind? Hellseher bin ich nicht. Also muss auch ich fragen. Und mich von Zeit zu Zeit an die eigene Nase fassen. Immer dann nämlich, wenn ich mal wieder das eigene Bild im Kopf mit dem tatsächlichen Problem verwechselt habe.

 

Und erstmal die Schnauze halten!